Zu dem Skandal um mehr als 1400 missbrauchte Kinder im nordenglischen Rotherham (wir berichteten) kommt jetzt ein weiterer Skandal: Beamte, die einschreiten hätten können, aber stattdessen beide Augen schlossen, weigern sich zurückzutreten. Nach dem Schock der Enthüllungen richtet sich die Empörung auf die Verantwortlichen.
Am Dienstag hatte ein unabhängiger Untersuchungsreport dargelegt, dass in der 120 000 Einwohner zählenden Industriestadt Rotherham in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Kinder sexuell missbraucht worden sind. Behördenleiter bei den Sozialdiensten als auch bei der Polizei hatten davon gewusst, aber einschlägige Berichte bewusst ignoriert oder gar unterdrückt. Lediglich der Vorsitzende des Stadtrats in Rotherham Roger Stone ist am Dienstag zurückgetreten. Für andere Beamte, hieß es, soll es keine disziplinarischen Untersuchungen geben, zum einen, weil Beweise fehlen würden, zum anderen, weil sie nicht mehr in Rotherham arbeiten.
Stadtrat für Kinderschutz
Am Mittwoch wurden Stimmen immer lauter, die nach einem Rücktritt des Polizeichefs von South Yorkshire, Shaun Wright, riefen. Wright war ein Labour-Stadtrat, der von 2005 bis 2010 für den Kinderschutz zuständig war, bevor er im Jahr 2012 zum Polizeichef gewählt wurde. Wright ließ verlauten, dass er zwar akzeptiere, dass »jeder im Stadtrat von Rotherham mehr hätte tun können, um diese schlimmen Verbrechen zu bekämpfen«. Einen Rücktritt als Polizeichef lehne er jedoch ab. Er halte sich für die »am meisten geeignete Person für diesen Posten.«
Was in Rotherham über die letzten 16 Jahre vor sich ging, ist haarsträubend. Der Untersuchungsbericht liefert erschreckende Beispiele. »Junge Mädchen, nicht älter als elf Jahre«, berichtete Professorin Alexis Jay, die die Untersuchung leitete, »wurden von mehreren Tätern vergewaltigt«. Viele Opfer, so Jay, »wurden entführt, geschlagen und eingeschüchtert. Es gibt Beispiele von Kindern, die mit Benzin überschüttet und bedroht wurden, sie anzuzünden. Andere wurden gezwungen, gewalttätige Vergewaltigungen anzuschauen, und dann wurde ihnen gesagt, sie wären als nächste dran, wenn sie irgendjemandem etwas davon sagen würden.«
Bei den Tätern soll es sich »in der großen Mehrheit« um Männer mit asiatischem Hintergrund - also pakistanischer oder bengalischer Herkunft - handeln. Seit 2010 ist es zu mehreren einschlägigen Gerichtsverhandlungen gekommen. Seit Mitte der 90er-Jahre wusste man von den »Sex-Gangs« und vom »on-street grooming«.
Als die Labour-Abgeordnete Ann Cryer das Thema 2003 öffentlich ansprach und versuchte, eine Kampagne zur Abhilfe zu starten, schlug ihr heftige Kritik entgegen. Die Polizei war besorgt, dass die Beziehungen zur muslimischen Gemeinde vergiftet würden. Und Cryers Parteifreunde waren entsetzt, dass ihre Kampagne den rechtsextremen Rassisten der British National Party in die Hände spielen könnte. So kam es zu einer Kultur des Schweigens und Wegschauens. Zwar hat es drei vorherige Untersuchungen gegeben, aber sie wurden von der Polizei ignoriert und von der kommunalen Verwaltung unterdrückt. Jochen Wittmann