Im Gegensatz zu den meisten anderen muss er aber später keine Schreibschrift mehr lernen, wie sie Millionen Deutsche in ihre Schulhefte kratzten. Der Junge lernt die neue »Grundschrift«.
Weg mit Köpfchen und Schleifchen
Die kommt schnörkellos daher: Hier ein Köpfchen malen, dort ein Schleifchen setzen - weg damit! Die »Grundschrift« nutzt Buchstabenformen, die Druckbuchstaben sehr ähnlich sind. Sie sollen jedoch nicht »wie gedruckt« aufs Papier gebracht werden, sondern schwungvoll auslaufen. Damit soll später das flüssige Verbinden leicht von der Hand gehen. Eine formenklare, formstabile und gut lesbare Handschrift ist das Ziel - wachsender motorischer Defizite zum Trotz.
Seit 2010 erprobt die Grundschule im Hösbacher Ortsteil Winzenhohl diese neue Methode, im vergangenen Schuljahr noch als eine von nur zwei Schulen in ganz Bayern. Mittlerweile sind es laut Kultusministerium sieben Schulen im Freistaat, die beim Schulversuch mitmachen: darunter seit Beginn des laufenden Schuljahres die Kaldaha-Schule in Kahl und ab Herbst die Grundschule in Sailauf.
Ansonsten testen nur noch Häuser bei Nürnberg und im Allgäu die neue Schrift. Hierzulande ist sie zuweilen sogar bei Pädagogen unbekannt. Im Schulamt Main-Spessart etwa ist der Begriff erst gar nicht geläufig. Später dämmert’s: Ach so, die neue Schrift. Nein, die gibt’s bei uns nirgends. Und im Kreis Miltenberg erklärt Schulamtsdirektorin Dorle Büsing: Man verschließe sich nicht Veränderungen, habe doch aber zurzeit schon mit einer Menge anderer Reformen zu tun.
Also erobert die neue Schrift zunächst nur den Aschaffenburger Raum. Wobei die Erfinder der »Grundschrift«, allesamt im Grundschulverband organisiert, betonen: Es handele sich mitnichten um eine neue Schrift. Es gehe bloß darum, besser schreiben zu lernen. Bislang hätten Grundschüler einen »Umweg« gehen müssen und drei Schriften nacheinander gelernt: zuerst die aus Kindergarten und Alltag geläufige Druckschrift, später die viel zu verspielte und anstrengende Ausgangsschrift und am Ende eine persönliche Handschrift.
Maresa Karpf, die an der Grundschule Winzenhohl den Versuch betreut und in ihrer jahrgangsgemischten Eingangsklasse Erst- und Zweitklässlern das Schreiben beibringt, ist schon jetzt von der »Grundschrift« überzeugt: Abgesehen davon, dass Lehrmaterial Mangelware sei (am Anfang malte sie per Hand in alte Übungshefte Schwünge an Druckbuchstaben) - sei der ganze Schreiblehrgang entschlackt; ihr bleibe im Unterricht viel mehr Zeit für Rechtschreibung oder Lesen.
Kritiker: Sinkender Anspruch
Es stelle sich ohnehin die Frage, warum die Kinder all die Bögen und Kringel lernen müssten. »Ab einem gewissen Alter fangen viele sowieso wieder an, zu drucken.« Die ersten Erfahrungen jedenfalls haben der 40-Jährigen, die seit 15 Jahren unterrichtet, nach eigenen Angaben gezeigt: Leichteres Schreibenlernen regt dazu an, gerne zu schreiben.
Trauert sie dem Verlust einer hübsch schnörkeligen Schrift nach? »Überhaupt nicht«, so Karpf: Stillstand dürfe es nicht geben in der Pädagogik. »Wenn man nie was getestet hätte, würden wir heute noch mit dem Gänsekiel schreiben.« Schulleiter Fred Völker, als Grundschulverbands-Vorstandsmitglied in Bayern erklärter Grundschrift-Fan, ergänzt: »Kinder sind heutzutage motorisch schwächer. Da müssen wir uns als Schule doch bewegen.«
Es gehe dabei nicht um Ideologien. Völker spielt auf den Streit um die neue Methode an: Seit der Einführung im Sommer in Hamburg tobt ein Kulturkampf, der bald so laut sein könnte wie der um die Rechtschreibreform. Von Kulturverfall ist die Rede, von Reformwut, von sinkendem Anspruch an die Schüler, von einem schulpolitischen Himmelfahrtskommando.
Den Erstklässler in Winzenhohl juckt das nicht. Er malt stolz seine ersten steifen Ks ins Heft, während Laura am Tisch gegenüber, sie ist schon in der zweiten Klasse, ihre Ks mit kräftigen Schwüngen übt. Längst kann sie flüssig schreiben. »Und schön«, sagt ihre Lehrerin Maresa Karpf.
Jens Raab
Hintergrund: Die Debatte um die »Grundschrift«
Das
Gekrittel am Gekrakel in deutschen Schulen ist groß: Viele Schüler könnten ihre eigene Schrift nicht entziffern, jammern Lehrer. Das Problem nehme mit
Motorik-Problemen - als Folge von Zeitmangel oder der Dominanz von Computern - zu. Von Rechtschreibproblemen ganz zu schweigen. Für den 10 000 Mitglieder starken
Grundschulverband, eine bundesweite »Basisinitiative« von Lehrern und Wissenschaftlern, liegt ein Schlüssel zur Problemlösung in der »Grundschrift«. Sie führe
schneller und
einfacher zu
gut lesbarer Gebrauchsschrift. Sie hebt sich ab von den drei in Deutschland gängigen, normierten »Ausgangsschriften«, die Grundschüler lernen (siehe »Schriftenwirrwarr«). Diese entwickelten sich aus der »Deutschen Normalschrift«, die
1941 die Nazis einführten. Das bayerische
Kultusministerium, das 2014/2015 einen neuen
Grundschullehrplan einführen will (siehe Beitrag unten), prüft derzeit, ob die Grundschrift dann eingeführt werden soll.
»Noch ist alles offen«, betonte gestern Ministeriumssprecherin Marion Rüller. Die
Kritik an der »Grundschrift« ist vielstimmig. Die
»Retortenschrift« eines einzelnen Verbands diene
finanziellen Interessen (der Grundschulverband verkauft Lehrmaterial). Sie befördere das bestehende Schriftenwirrwarr und den
Verfall der Handschrift sowie
Konzentrationsstörungen. (
JhR)
Grundschulverband:
www.die-grundschrift.de