Während Oberbürgermeister Horst Schneider (SPD) beim Willkommensgruß das demokratische Engagement der Freibeuter preist, sondiert ein weiterer Sozialdemokrat den Saal. André Kavai, Vize-Landrat im Main-Kinzig-Kreis, hat sich von Ralf Praschak, einem der beiden Kreistagspiraten in Gelnhausen, ins Schlepptau nehmen lassen. Viele junge Leute, stellt er beim Rundblick fest. Selbst Parteitagsveteran, fühlt sich Kavai offenkundig zu Hause unter den Korsaren. Zumindest bevor es ans Eingemachte geht.
Der Streit ist bezeichnend für die Gemeinschaft, die zwar die Angriffslust im Namen trägt, die jedoch, anders als etwa die Grünen, nie ein Problem damit hatte, als Partei zu gelten - und sich auch so zu benehmen. Piraten sind nicht revolutionär, Piraten sind pragmatisch. »Unser Diskussionsstil ist echt leidenschaftlich, teilweise auch sehr hart«, sagt Hessens Landesvorsitzender Karbalai Assad Thumay. »Aber wir sind lösungsorientiert«. Der Beweis kommt skurril. Der Parteitag stimmt ab, ob die Tagesordnung mit 42 kumulierten Anträgen - ursprünglich rund 850 - gemäß einer Mitgliederumfrage abgearbeitet oder per Zufallsgenerator bestimmt werden soll. Nach kurzer Debatte triumphiert die Systematik.
Ein Aha-Erlebnis zumindest nimmt SPD-Mann Kavai mit. Wo andere Parteivorsitzende endlos programmatisieren, braucht Bundesvorsitzender Sebastian Nerz keine Viertelstunde, um seine Piraten einzunorden - Kurs auf Schleswig-Holstein, wo im Mai 2012 der nächste Landtag sturmreif wird.
Programmatisch legt sich die Partei neben der Begrenzung der Leiharbeit und der Abschaffung von Sanktionen bei Hartz-IV-Leistungen mit Zweidrittel-Mehrheit auf die Forderung nach einem »Bedingungslosen Grundeinkommen« für alle Bürger fest. Dieses Bürgergeld soll allen »eine sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ohne Zwang zur Arbeit oder anderen Gegenleistungen gewährleisten«. Vom Bundestag sollen dazu Modelle entwickelt werden.
Das Modell eines solidarischen Bürgergelds wird etwa auch vom ehemaligen thüringischen CDU-Ministerpräsidenten Dieter Althaus vertreten und sieht dazu eine Reform der Einkommensteuer und die Zusammenführung der staatlichen Transferleistungen vor. Für Wirtschaftsliberale war es in Offenbach gleichwohl ein rotes Tuch. »Das ist Kommunismus«, rief eine junge Piratin, und »Wir fördern die Faulheit«, empörte sich ein anderer.
Jubel wie im Fußballstadion
Der Parteitag macht deutlich, dass das Wir-Gefühl weder Online noch durch Massenchats entstehen kann. Wenn sie ihrer Partei ein Gesicht mit politischen Konturen geben wollen, müssen sie zusammenkommen. Und das tun sie auch. Versammlungsleiter Jan Leutert kann einen Rekord vermelden: Mit 1255 Mitgliedern ist Offenbach der bisher größte Bundesparteitag, was Leutert sogleich in basisdemokratische Währung münzt: »Wir überhören die Rufe nach Delegiertentreffen. Wir machen weiter Mitgliederversammlungen«, ruft er in den Saal. Jubel wie im Fanblock am Bundesliga-Tag.
Auch sonst entdeckt, wer aufpasst, Anleihen bei Sport und Showbusiness. Während die Reden laufen, werden ständig Parteitagssouvenirs verlost. Um vordere Plätze in der Schlange vor der Kaffeequelle entbrennt ein kreativer Wettbewerb. Auf den Tischen reihen sich Notebooks, Tablets und iPads, als fände eine Mega-LAN-Party statt. Nur dass statt zockender Gamer sendungsbewusste Polit-Enthusiasten kommunizieren. Netzwerktechnisch unschlagbar zu sein, ist Ehrensache für die Orga-Crew. Fünf Kilometer Netzwerkkabel liegen in der Stadthalle. Eine eigene UMTS-Antenne, eine Richtfunkstrecke zum Feldberg und eine Satellitenverbindung stehen. »Will jemand das WLAN-Passwort?« fragt es von der Bühne. Nur vereinzelte Brüller. Die meisten haben es längst.
Wie die etablierten Parteien wissen auch die Piraten, ihre Helden zu feiern. Gerhard Anger, der Sieger von Berlin, wird enthusiastisch beklatscht. Selbstbewusst langt er in die Geschichte und spitzt Willy Brandts geflügelte Worte zu: »Nicht mehr Demokratie wagen - Demokratie wagen.« Assad Thumay hat noch mehr auf dem Schirm: Deutschlands Piraten stünden mit ihren Erfolgen an der Spitze einer weltweiten Bewegung. »Für die Anderen sind wir jetzt das Leuchtfeuer.«
Oliver und Karin Klemt/AFP