Dass sich viele in Grafendorf vor Willi Moser* (*Name geändert) fürchten, kann man nachvollziehen. Moser ist ein großer Mann von siebzig Jahren, mit kräftigen Händen und klarem Blick. Er hört sehr genau zu. Er vergisst das Gehörte nicht und erzählt es weiter, meist mit einem bitteren Lächeln, das Enttäuschung verrät, aber auch Gewissheit ausdrückt.
So kann sich Willi Moser zum Beispiel noch ganz genau an das hassverzerrte Gesicht seines Freundes Hansi* erinnern, damals auf der Bürgerversammlung in Grafendorf, als er die Burschen plötzlich angebrüllt hat: »Nun haltet doch endlich mal die Klappe!« Oder daran, wie Bischof Kapellari ihm vorgeworfen hat, er sei schuld, dass zwei seiner Söhne aus der Kirche ausgetreten sind. Wenn Willi Moser so etwas erzählt, erwartet er keine Reaktion. Er sagt es nur.
In Grafendorf steht alles an seinem Platz: Mitten im Dorf die Kirche, der Kirchenwirt und die Raiffeisenkasse, neben dem Kriegerdenkmal zwischen gelben Stiefmütterchen die Silhouetten von Graf Ekbert und Gräfin Willibirg, die dem schönen Ort den Namen gaben. Das stattliche Haus der Mosers steht am Ortsrand. Aus allen Ecken grüßen hier die Zeugen eines frommen und tätigen Lebens - von der Harke auf der Terrasse über den Herrgottswinkel, das kühne, riesige Portrait von Papst Johannes Paul II. über dem Sofa bis zu den Ordnern auf den Wohnzimmersesseln und dem Laptop auf dem großen Küchentisch. Der Vater ist studierter Kirchenmusiker und war lange Organist der Gemeinde.
Überall im Haus und in der Gemeinde haben die inzwischen erwachsenen Kinder von Willi Moser und seiner Frau ihre Spuren hinterlassen. Sechs Söhne und eine Tochter haben in Grafendorf ministriert, Orgel gespielt, die Kirchenzeitung ausgetragen, die Sonntagslesung gelesen und im Chor gesungen. Drei Söhne haben dafür über Jahre die »besondere Zuwendung« und die »väterliche Liebe« des Herrn Pfarrer genossen.
Das aber passt schon nicht mehr in den Almanach für das katholische Landvolk. Thomas*, der eine von ihnen, ist in Psychotherapie gegen die Erstarrungszustände, die er immer wieder durchlebt, seit er sich als Junge gegen die Übergriffe des Priesters wehren musste. Peter* leidet unter Panikattacken. »Als Kind hat er manchmal bis zu sieben Tage lang den Stuhl zurückgehalten«, erzählt Mutter Gertrud*. Der dritte steht heute noch bis zu 45 Minuten unter der Dusche.
Grafendorf in der Steiermark ist eine Missbrauchsgemeinde. Auf rund dreißig schätzt Thomas Moser, ein ruhiger, blasser, schmaler und viel jünger wirkender Mann von 34 Jahren, die Zahl seiner Leidensgenossen. Anfangs dachte sich niemand etwas dabei, wie der fleißige, betont konservative Herr Pfarrer sich immer wieder Jungen ins Pfarrhaus holte. »Er hat immer gesagt, er muss sich um die Kinder kümmern, weil die Eltern es nicht genug tun«, erzählt Willi Moser. Weil er angeblich Hilfe für die Renovierung einer Wohnung brauchte, entführte er den zwölfjährigen Thomas über Tage nach Graz. Erst danach kriegte Mutter Gertrud etwas mit. »Ich war ja damals völlig unbedarft«, sagt sie heute. »Das Wort Pädophilie habe ich gar nicht gekannt.« Und »bis ins Detail« weiß sie bis heute nicht, was vorgefallen ist.
»Herausgekommen« oder »aufgeflogen« ist der gewohnheitsmäßige Missbrauch seither schon zwei- oder dreimal, wenn das überhaupt die richtigen Worte sind. Jedes Mal hat Grafendorf die Sache in Rekordzeit absorbiert. Erst war alles unbewiesen oder Verleumdung. Oder der Pfarrer brauche eben auch ein »bisschen Zärtlichkeit«, wie Gertrud Moser damals vom Vorsitzenden des Pfarrgemeinderats hörte. Dann war alles plötzlich ein alter Hut, von dem keiner mehr etwas wissen wollte.
Jetzt, wo sexueller Missbrauch durch Priester auch in Österreich das große Thema ist, hat der neue Pfarrer in der Predigt am vierten Fastensonntag endlich einen relativ deutlichen Satz über die Taten seines Amtsvorgängers gesagt: »So viele junge Männer haben sicher nicht gelogen.«
Klar ist in Grafendorf jetzt, dass da etwas war. Unklar ist aber, wer es damals der Diözese gemeldet hat. Unter Verdacht stehen die Mosers. »Wir waren die Bösen, die den Pfarrer vertrieben haben!«, erzählt Gertrud Moser. So ist es bis heute geblieben. Dabei hatte die Mutter von Thomas erst nur den Pfarrer selbst zur Rede gestellt. »Er hat mir weinend versichert, dass es nicht wieder vorkommen wird.« Als dann Jahre später durch die Medien ging, dass der Kardinal von Wien Jungen missbraucht hatte, erlebte die Frau, wie der Pfarrer seine Sünden wirklich verarbeitet hatte. Er geriet schier außer sich, sprach von »Verleumdungen« und schrie regelrecht von der Kanzel herab. Jetzt platzte Mutter Moser der Kragen. Als die Eltern auch mit anderen zu sprechen begannen, drang die Kunde vom Missbrauch auf ungeklärtem Wege nach Graz. Gertrud Moser wurde zu einer Befragung zum »bischöflichen Visitator« zitiert. Sie könne jemanden mitbringen, hatte es geheißen. Damals spürte die Frau erstmals die Wand, vor der sie seither steht. »Niemand wollte. Der Pfarrsekretär hat sich nicht getraut, der Religionslehrer nicht, und die Schuldirektorin hat mich richtig angeschrien!«
Der Pfarrer musste gehen, und seither hat Familie Moser sich nicht mehr beschämen lassen. Jetzt schien es ja heraus. Aber es schien nur so. Im Pfarrbrief stand etwas von »gesundheitlichen Gründen«, und man munkelte, der arme Mann läge nun im Krankenhaus. In Wirklichkeit hatte er vom Bischof gleich die nächste Pfarrei zugewiesen bekommen. Gertrud Moser bekam Wind davon, protestierte, die Lokalzeitung brachte einen Artikel. Aus Graz kam der Generalvikar und gab den Mosers vor einer feindseligen Gemeinde Recht. Die Missbrauchsopfer, inzwischen junge Erwachsene, kamen öffentlich zu Wort. Sie hatten sich vor der Versammlung im Pfarrsaal zusammengetan und einander Mut gemacht. »Ganz hinten in der Ecke standen die Burschen«, erinnert sich Vater Moser. »Die Geschändeten« nannte sie der Chef des Pfarrgemeinderats.
Das Pfarrhaus, ein Gewölbebau aus dem 18. Jahrhundert, ist das prächtigste Gebäude im Ort. Warm scheint die Sonne auf die Holzbank vor dem steinernen Portal. Aber als die Rede auf Missbrauch kommt, steht der heutige Ortspfarrer Alois Puntigam rasch auf und bittet den Gast in sein düsteres Büro. Dass die Familie Moser im Dorf seither isoliert ist, kann er nicht richtig dementieren. Nur eins zu eins auf den Missbrauch mag er es nicht zurückführen. Wie viele Opfer es waren, weiß er nicht; gefragt hat er nie. »Man weiß ja nicht, ob alle auch dazu stehen«, sagt er und korrigiert sich gleich: »Ob alle auch bereit sind auszusagen.« Dafür hat der Pfarrer Verständnis. »Die Schande wird dann öffentlich gemacht, und die Opfer haben wieder die Schande.«
Wenn die Opfer die Schande haben, muss sich auch der Täter kein schlechtes Gewissen machen. Das hat der alte Pfarrer, der heute jedes Gespräch verweigert, wohl auch nicht getan. Seine Ehre sei verletzt, schrieb er jedenfalls in einem Rundbrief nach seiner Absetzung und sinnierte über die »unergründliche Dimension des Leidens« - seines Leidens. Thomas ist es noch einmal gelungen, ihn zur Rede zu stellen. »Geschämt hat der Pfarrer sich für seine Homosexualität, nicht für den Missbrauch«, erzählt er.
Was die Amtskirche im Falle von Grafendorf unternommen hat, lässt mehr auf Unbeholfenheit und hilflose Strukturen als auf Willen zur Vertuschung schließen. Thomas Moser erinnert sich an ein verdruckstes Verhör. »Ich habe gedacht: Endlich interessieren sie sich dafür!« Als es zur Sache ging, musste er mit dem Rechtsanwalt in einen Nebenraum. Am Ende fragte der »Hat er Sie im Genitalbereich berührt?« Thomas: »Ich habe ja gesagt. Aber dann war die Befragung auf einmal zu Ende.«
Weil der Pfarrer uneinsichtig war, kam es sogar zu einem kirchenrechtlichen Prozess in Salzburg. Wie er ausging, hat die Familie nie erfahren. Jahre später teilte der Generalvikar dem Vater Moser mit, »dass das katholische Kirchenrecht Urteilsveröffentlichungen nicht nur nicht vorsieht, sondern darüber hinaus die beteiligten Personen sogar zur Geheimhaltung verpflichtet sind«. Erst die Wiener Wochenzeitung »Falter« fand heraus, dass der Pfarrer verurteilt, das Urteil dann aber von der Glaubenskongregation in Rom wieder aufgehoben wurd. Der Fall sei »verjährt« hieß es. Nur die Schande ist geblieben.
N.Mappes-Niediek