Bilderserie: Stefan Gregor
Diese wunderbar feine Maserung des Holzes, ein ganz natürliches Kunstwerk. Von ganz nah betrachtet werden will Stephan Kurt Müllers »Der König und sein Gefolge« - und noch mehr: In dieser Ausstellung sollen die Stücke sogar berührt werden, ausdrücklich erwünscht ist das. Und dann die große Überraschung, als die Hand über Müllers Arbeit gleitet: so warm der das Gefolge meinende Sockel, so kalt der darauf thronende König.
Ein Verwirrspiel des Künstlers: Der Aufsatz ist aus kühlem Stein, die scheinbare Holzmaserung ist das künstliche Werk Müllers.
Solche Überraschungen erlebt der Besucher immer wieder, wenn er durch die seit diesem Samstag laufende Ausstellung im Aschaffenburger Schlossmuseum wandelt: Im für Sonderschauen vorbehaltenen Flur und in den beiden Räumen im ersten Stock wechseln sich in Brusthöhe gehängte dreidimensionale Bilder mit auf Kniehöhe platzierten Skulpturen, scheinbar verwaschene Fotografien mit vom Schutz des Vitrinenglases befreiten Altertümern ab.
Ausstellung "Fassbar"
»Das Fassbare und das Unfassbare« wollen die Künstler Peter Mayer, Barbara Meiler, Stephan Müller und Ghomri Wolf-Khosrowi sowie die Museen der Stadt Aschaffenburg mit Beiträgen aus ihren Depots darstellen: fassbar, indem jedes der gezeigten Werke im wahren Wortsinn begriffen werden kann; unfassbar, indem der Besucher beim Gang durch die Ausstellung die vielen Möglichkeiten des Wahrnehmens zu erkennen beginnt - und feststellt, dass selbst ein scheinbar »normales« Leben nicht all diese Möglichkeiten bietet.
Denn was tut der Betrachter, wenn er im Museum vor einem Gemälde oder vor einer Skulptur steht: Er betrachtet es. In »Das Fassbare ...« macht es Sinn, die dreidimensionalen Bilder von Stephan Müller und von Barbara Meiler zu ertasten, über die Skulpturen und Installationen von Ghomri Wolf-Khosrowi und Peter Mayer zu streichen. Für Blinde und stark Sehbehinderte ist das Normalität, für Sehende liegen dazu in der Schau 15 Schweißerbrillen mit geschwärzten Gläsern bereit, um Malerei und Bildhauerei zu begreifen. Und ab und an dafür in die Hocke zu gehen: Augenhöhe bedeutet in dieser Ausstellung Anpassung an den Blickwinkel des Rollstuhlfahrers.
Was das Künstler-Quartett vor drei Jahren in einem Brief an die Stadt Aschaffenburg vorgeschlagen hat, ist zur Premierenflut für das Museums-Team geworden:
Zum ersten Mal setzen Blinde und Rollstuhlfahrer die Maßstäbe für das Präsentieren der Kunstwerke, zum ersten Mal gibt es die die Objekte erläuternden Legenden auch in Blindenschrift, zum ersten Mal dürfen Jahrhunderte alte Stücke aus dem Museumsdepot berührt werden.
Und auch die Künstler selbst haben sich akribisch vorbereitet auf die Ausstellung: Barbara Meiler hat ihre Schichtenmalerei um natürliche Materialien erweitert, ihr großformatiger Bilderzyklus zum Mythos der Verwandlung der Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum stilisiert sie mit Borke von Bäumen aus dem Taunus. Die Vorstellungskraft beim Betrachten der Gemälde wird auf diese Weise zur Wirklichkeit: Die Rinde tritt hervor, der menschliche Körper ist nur noch über die seinen Umriss nachzeichnende Strukturpaste zu ahnen.
Das Spiel mit dem aus der Fotografie bekannten Negativ und Positiv wird hier dreidimensional - und wenn Barbara Meiler von »haptischer Malerei« als persönlich neuer Erfahrung spricht, so kennt die Kunst doch Vorbilder: Das aus dem 18. Jahrhundert stammende lebensgroße Gebäckmodel eines in Tracht gekleideten Mannes - für lange Zeit unberührt im Museumsdepot gestanden - ist seit jeher dafür gedacht, dass seine dreidimensionale Struktur über die reine Ästhetik Sinn hat, in diesem Fall als Form für eine Teigmasse.
Besonders anschaulich wird das Ansinnen der Ausstellung denn in den Fotografien von Ghomri Wolf-Khosrowi, die in ihrer bewussten Unschärfe ahnen lassen, wie sehr wir Menschen auf den Dialog unserer Sinne mit unserer Vorstellung, auf das Miteinander von Fühlen und Gefühl angewiesen sind. So wird denn das Unfassbare sehr fassbar in dieser so wundersam anmutenden und doch so selbstverständlichen Schau von Kunstwerken, die ausnahmslos jedem einzelnen Besucher die Antwort auf eine immer wieder gestellte Frage unseres Seins gibt: Nichts ist endgültig, wir können unsere Welt - und vor allem uns selbst - immer wieder aufs Neue entdecken.
Stefan Reis