Der Gewinner kommt unscheinbar daher, aber mit hohem Anspruch. Er will in Mailand Stadt und Landschaft, Mensch und Bauen in ein neues Verhältnis bringen - in Gestalt von zwei rechteckigen Türmen mit 80 und 112 Metern Höhe.
Erst beim Näherkommen entdeckt man die »organische Stadt« des Mailänder Architekten Stefano Boeri. Alle Stockwerksplatten kragen nämlich unregelmäßig über die Fassaden hinaus und bilden dort Terrassen. Diese sind bestückt mit insgesamt 800 Bäumen, 5000 Sträuchern und 11 000 Bodendeckerpflanzen. So hat jede der 113 Wohnungen einen eigenen, kleinen Wald mit Bäumen, die bis zu neun Meter hoch werden sollen.Ein »vertikaler Wald«, der für bessere Luft sorgt, aber auch vor Hitze und Kälte sowie vor Lärm schützt.
Dieser Wald taugt allemal mehr als jedes Dämmmaterial, er tut auch dem Gemüt gut. Der Öko-Bau - sofern man ein Hochhaus überhaupt mit dem Etikett »öko« versehen darf - muss aber seine Gewächse gegen Kälte und Sturm schützen, zugleich für Feuchtigkeit sorgen. So wurden Bäume in Windkanälen erprobt, riesige Pflanzentröge entwickelt, eine Spezialerde aus Vulkangestein und Mineralien gemixt, ein Bewässerungssystem ausgetüftelt und schließlich besonders dicke Betondecken gegossen.
Mit 50 000 Euro dotiert
Kein Wunder, dass der Mailänder Doppelturm jetzt mit dem Internationalen Hochhaus-Preis ausgezeichnet wurde für den weltweit innovativsten Wolkenkratzer. Der Preis wird alle zwei Jahre in Frankfurt verliehen, ist mit 50 000 Euro dotiert und mit einer Schau im dortigen Architekturmuseum (DAM) verbunden.
Die Ausstellung rückt zwar den Gewinner und die vier in die Endrunde gekommen Mitbewerber ins Zentrum, aber daneben sind 21 weitere und nicht weniger interessante Bauten zu sehen, illustriert an Fotos, Plänen, Modellen und Kurztexten. Die 26 Türme stehen in 17 Ländern, allen voran Europa mit neun Bauten, gefolgt von Asien (7), der arabischen Welt (3), den USA (2), Russland (1) und anderen Ländern.
Tatsächlich fällt der prämierte Bau, der »Bosco Verticale«, wie er im Italienischen heißt, mit seiner plastischen, fast wulstigen Fassade auf. Immerhin wächst an jedem der beiden Türme rund ein Hektar Wald. Doch die Bewohner dürfen nicht selbst die Pflanzen hegen, um ein heilloses Chaos zu vermeiden. Ohnehin waren die zahlreichen Experimente sehr aufwendig. So kostet der Quadratmeter Wohnfläche 9000 Euro; macht beim kleinsten Apartment mit 70 Quadratmetern satte 630 000 Euro. Kaum auszudenken, was die 500-Quadratmeter-Wohnung kostet. Doch der 57-jährige Architekt erzählt, dass er in China einen ähnlichen Turm für den sozialen Wohnungsbau plant.
»Schutz und Raum«
»Ein gebautes Manifest«, meint DAM-Chef Peter Cachola Schmal, der begeistert ist: »Der Bosco Verticale bietet auf ehrliche Art Schutz und Raum, bezieht zugleich Natur, Licht und Luft ein und ist dabei nicht komplexer als nötig. Eine mutige und radikale Idee für die Städte von morgen.« Bisher suchte der Mensch die Natur außerhalb der Stadt, nun kommt die Natur in die Stadt. »Irgendwann wird man die Stadt vor lauter Bäumen nicht mehr sehen«, witzelt Architekt Boeri.
Keine reinen Wohntürme sind jedoch die vier in die engere Wahl gekommenen Wolkenkratzer in Rotterdam, Barcelona, Sydney und im chinesischen Chengdu. Sie haben eine Mischnutzung aus Büros, Wohnen, Hotels und Einzelhandel. So bezeichnet Stararchitekt Rem Koolhaas seinen Rotterdamer Bau als »vertikale Stadt«. Freilich geht der Blick vom Schlafzimmer direkt auf die nur sechs Meter entfernten Büros.
Eine geschicktere Mischung zwischen Büros und Wohnen nebst Museumsdependance gelang dem Frankfurter Taunus-Turm. Dass nur zwei deutsche Bauten in der Schau vertreten sind, sieht Schmal ganz nüchtern: »Wir haben zur Zeit einen Retrotrend zu Altbauten. Aber der wird weltweit nicht geteilt.«
bBis 1. Februar; geöffnet Dienstag und Donnerstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Mittwoch 11 bis 20 Uhr. Katalog 24,95 Euro.
Christian Huther