Das Bürgerservicebüro im Aschaffenburger Rathaus wird - statistisch gesehen - im Jahr von etwa 60 000 Menschen aufgesucht. Dazu kommen jene, die Anträge, Formulare, Bescheide in anderen im Rathaus untergebrachten Abteilungen der Stadtverwaltung abzugeben oder zu holen haben, die Anfragen haben, Kritik und Wünsche äußern: von »Laufkundschaft« spricht hier der Volksmund. Sie alle machen in der Summe ein Publikum aus, das in etwa der Einwohnerzahl Aschaffenburgs entspricht. Übers Jahr gesehen besucht - natürlich ein reines Zahlenspiel - jeder Aschaffenburger ein Mal sein Rathaus.
Meditative Kraft
Die meisten dieser Besucher sind auf ihr Anliegen konzentriert - es dürfte keine gewagte Behauptung sein, dass der Großteil dieser Kundschaft das Rathaus nicht als architektonische Besonderheit wahr nimmt. Denn dazu bedarf es einer Besinnung und vor allem auch einer Zeit, die der Alltag oft genug nicht zulässt …
… und die sich nun in 85 wunderbar komponierten Aufnahmen von Walter Vorjohann findet: »Eintauchen« in die Architektur dieses Gebäudes nennt der Frankfurter Fotograf seine Arbeit, die sich in dem im renommierten Kunstbuchverlag Hirmer erschienenen Bildband »Das Rathaus von Aschaffenburg - Ein neu entdecktes Baudenkmal der 50er Jahre« zu einem Gesamtbild fügen.
Es sind Bilder von großer meditativer Kraft, die Vorjohann mit Hilfe der Aschaffenburger Stadtverwaltung Wirklichkeit hat werden lassen: Um die Harmonie des 1956/58 nach Plänen des Architekten Diez Brandi (1901 bis 1985) gebauten Hauses auf dem Stiftsberg in ihrer Erhabenheit darstellen zu können, wurde während der an Wochenenden entstandenen Aufnahmen das gesamte Rathaus-Umfeld gesperrt, aus Büros und Fluren Akten und Bücher, Pflanzen und Dekorationen entfernt. Er wollte das »ästhetische Empfinden jener Zeit« für sich stehen lassen, sagt Walter Vorjohann - und: in der Beschränkung auf das Ursprüngliche »das Gefühl der Menschen« in den 50ern sehen wollen.
Gemeinschaft und Gesamtbild
Tatsächlich sind Walter Vorjohanns Fotografien Glücksfälle für die Stadtverwaltung - und für die Aschaffenburger Bürger. Das von Kunsthistorikern als »Baudenkmal von nationaler Bedeutung« eingeordnete Rathaus hält das an die Architektur der antiken griechischen Demokratien im Material-Mangel der Nachkriegszeit errichteten Gebäude in seiner künstlerischen Einheit und Durchgestaltung fest.
Selbst das Mobiliar und das Geschirr des Rathauses ist nach Brandis Entwürfen gefertigt - und von einer handwerklichen Qualität, die für die Ewigkeit ausgelegt scheint: Der Gedanke der Bauhaus-Gestalter - aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg - von der Demokratisierung der Architektur hat sich hier vervollkommnet. Jede ästhetische Komponente erfüllt hier ihren funktionalen Zweck, jede Überhöhung - wie die Wanduhr im Lichthof - ordnet sich der Gemeinschaft des Gesamtbildes unter.
Dieser Gemeinschaftsgedanke ist die Seele des Aschaffenburger Rathauses - und sein Geist ist ein von tiefer Ruhe erfüllter. Walter Vorjohann macht diesen Geist in seinen Bildern sichtbar, der im Alltag so schnell durchschritten wird - und der doch so fest steht wie eine Burg, die uns Schutz und Halt gibt.
Stefan Reis
Info: Der Bildband »Rathaus Aschaffenburg«
Stadt Aschaffenburg (Hrsg.): Das Rathaus von Aschaffenburg - Ein neu entdecktes Baudenkmal der 50er Jahre - Fotografien von Walter
Vorjohann. Hirmer Verlag (München) 2014 (www.hirmerverlag.de);
136 Seiten mit 85 Abbildungen in Farbe und Schwarz-Weiß und einem erläuternden Beitrag von Eva Schestag; 39,90 Euro.
Auflage: 1250 Exemplare - davon 750 in Aschaffenburg, erhältlich im Stadt- und Stiftsarchiv, im
Bürgerservicebüro des Rathauses und in den Verkaufsstellen Schlossmuseum, Stiftsmuseum und in der Kunsthalle Jesuitenkirche. (Stefan Reis)