Am Ende gibt es keine Zugabe. Irgendwann hat sich der Applaus erschöpft, das Licht geht an und das Publikum tritt wieder ein in die Normalität einer hässlichen Welt, in der Würde sich zu messen hat mit Geld, Geltungssucht, Arbeitsalltag, Akzeptanz, Egoismus, Fremdbestimmung.
Die zweieinhalb Stunden davor am Donnerstag - ausgerechnet dem Weiberfaschingsabend - im Aschaffenburger Hofgarten-Kabarett: Die sind nur die Dokumentation, dass der Mensch nun mal so ist, wie er ist. Irgendeiner findet sich immer, den man ducken kann - und selbst die ärmste Sau sucht ihre Chance, wenn's drum geht, einen anderen in den Dreck zu stumpen. Würde: Das ist doch nur der Wert, der zeigt, dass es immer einen gibt, der noch weiter unten sein Dasein fristet.
Verbale Ausscheidungen
Also nennt Matthias Egersdörfer sein mit Claudia Schulz und Andy Maurice Mueller gezeigtes Programm »Die Würde des Menschen ist ein Scheißdreck!«, ein »Carmen« noch vorangestellt. Denn diese Carmen (Claudia Schulz) ist der Fußabstreifer, der Boxsack, das Wutbällchen für den Kabarettisten Matthias Egersdörfer, was letztlich bedeutet: Nicht die Würde dieser Frau, sondern sie selbst ist ihm der blanke Scheißdreck.
Über weite Strecken ließe sich dieses Programm - in dessen Verlauf noch Andy Maurice Mueller als Nachbar-Figur der Beziehungs-Sackgasse Egersdörfer/Schulz das fleischgewordene Klischee der Tunte auf der Bühne erigiert - als typischer Egersdörfer-Kabarettabend beschreiben, mit einem bedeutsamen Unterschied: Steht er solo auf der Bühne, entlarvt sich sein mit Kastratenfalsett intonierter cholerischer Egoismus ganz einfach durch das kreischende Wüten gegen ein Nichts. In »Die Würde des Menschen ist ein Scheißdreck« dagegen finden all die verbalen Ausscheidungen Egersdörfers ein sichtbares Opfer, wahlweise die tumbe Carmen oder den schwulen Nachbarn. Es bräuchte permanent ein Guandanammo fränggischer Effizienz für das Dumme in der Welt, sagt Egersdörfer an einer Stelle seines nur ab und an von einem ausrufezeichenartigen Aufstoßen unterbrochenen Redeschwalls. Kein Zweifel, dass Egersdörfers Bühnen-Ich seinen Saustall mit Hassfiguren nur vollpferchen würde, um ihn mit wütiger Wollust säubern zu können.
Es wird also unaufhörlich gedemütigt in diesem Kabarettprogramm. Und all die Tabubrüche im Nebeneinander von Menschen inszeniert Egersdörfer nicht um der Provokation und der Aufmerksamkeit Willen. Er begeht sie mit der gedankenlosen Beiläufigkeit, mit denen Menschen - beispielsweise - mitten in der Fußgängerzone einen Rotzbatzen auswerfen: Nicht persönlich nehmen, bitte, aber das schnürte gerade die Kehle ab.
Das Beängstigende an Egersdörfer - und möglicherweise ist das die wahre Kunst - ist die Ungewissheit, wann der Kabarettist noch Spiel treibt und wann sein wahres Ich Besitz von der Bühnenfigur ergreift. Wenn in seinen Programmen gelacht wird - und das trifft für »Die Würde des Menschen ist ein Scheißdreck« besonders zu -, dann scheint dieses Publikumslachen hörbar vor allem ein Ventil für die Unsicherheit zu sein, ob sich das gerade auf der Bühne Gesehene /Gehörte auch tatsächlich ereignet hat.
Der Blick in den Spiegel
Dabei ist die Wirklichkeit nicht weniger scheußlich und elend: Wie oft ärgern wir uns über das unsensible Gewäsch von Arbeitskollegen, Nachbarn, selbst Freunden; wie oft machen wir auf Kosten Dritter den schnellen Witz, nur um uns als schlagfertig und humorvoll adeln zu lassen; wie oft werden wir zur Sau gemacht und wie oft machen wir andere zur Sau?
Vielleicht braucht dieses großartige Programm deshalb keine Zugabe, verebbt der Applaus ins Ungefähre. Die Sau, die Matthias Egersdörfer auf der Bühne herauslässt und die er als Bühnenfigur selbst ist: Die kennen wir alle nur all zu gut, manchmal sehen wir sie sogar im Spiegel.
Stefan Reis
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Matthias Egersdörfer, »Carmen oder die Würde des Menschen ist ein Scheißdreck!«: Samstag, 6. April, 20 Uhr, Neues Theater Frankfurt-Höchst.
Stichwort: Würde
Abgeleitet vom althochdeutschen »wirdî« und mittelhochdeutschen »wirde« ist »Würde« sprachwissenschaftlich eng verwandt mit »Wert«. Ursprünglich war damit der Rang, die Ehre oder das Ansehen eines Menschen gemeint. Während allerdings Ehre und Ruhm einen durch die Gesellschaft vermittelten Wert darstellen, ruht der Wert der Würde im Inneren eines jeden Menschen selbst.
Die Würde als Selbstbestimmung des Menschen findet sich zum ersten Mal bei dem Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463 bis 1494), der von einer »dignitas hominis« spricht: »Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen«, lässt Mirandola Gott zu Adam sagen. Diese Selbstbestimmung des Menschen macht für Mirandola seine Würde aus. (Stefan Reis)