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Wer genau hingehört hat, konnte den Schriftsteller Sjón in den vergangenen Wochen im New Yorker MoMA erleben. Zumindest seine Stimme. In der Retrospektive für seine langjährige Weggefährtin Björk hatte der Präsident des isländischen PEN-Zentrums den Audio-Guide eingesprochen.
Mit lyrisch-biografischen Traum-Sequenzen führte er die Museumsbesucher durch das Leben der Avantgarde-Ikone der Popmusik.
Poetische Literatur zwischen (fiktionaler) Realität und Traum ist auch sonst das Markenzeichen von Sigurjón Birgir Sigurðsson, kurz Sjón. Wie in seinem neuen Roman «Der Junge, den es nicht gab», der zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung in Island nun auch auf Deutsch vorliegt.
Reykjavik, Ende 1918: Island steht kurz vor seiner Unabhängigkeit. Zwar haben die rund 15 000 Stadtbewohner am äußersten Rand Europas den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Von der Spanischen Grippe aber, die über den Kontinent wütet, werden sie nicht verschont. Menschen sterben. Jeden Tag. Immer mehr. Die Epidemie hat die Stadt leergefegt, vereinzelt nur huschen alte Mütterchen gebeugt durch die Straßen und grüßen einander «mit Seitenblicken und Mundwinkelzucken». Es ist eine rückwärtsgewandte, triste Welt, in der der Waisenjunge Máni Steinn Karlsson aufwächst.
«Über viele Jahre habe ich Material zu den drei Strängen gesammelt, die die Erzählung um Máni Steinn bilden», umreißt Sjón in einem Interview seinen Roman. «Die Spanische Grippe, die Island im Herbst 1918 erreicht, das Interesse der Isländer am Film seit der Geburt der Kinematographie und die Geschichte homosexueller Menschen im Mikrokosmos Reykjavik.»
Während der 16-jährige Máni in den beiden Lichtspielhäusern der Stadt alles verschlingt, was auf die Leinwände der Insel gelangt, verdingt er sich in Hinterhöfen und Baracken als Stricher für Matrosen, Künstler und andere Freier. Aber nicht, weil er muss. Es ist die Suche nach der eigenen Sexualität. «Das Schicksal und seine Mitmenschen haben Máni Steinn an den Rand der Gesellschaft gedrängt», sagt Sjón mit Blick auf die ganz und gar nicht liberale isländische Gesellschaft zu dieser Zeit. «Und er hat das Gefühl, dass er immer ein Zuschauer sein wird, der auf das Leben anderer Leute blickt.»
«Von allen Figuren, die ich geschaffen habe, ist mir Máni Steinn in vielerlei Hinsicht am nächsten», sagt Sjón. «Sein Charakter und seine Interessen spiegeln den Heranwachsenden wider, der ich einmal war - das Rebellische, der Filmfimmel, das Uneinssein mit der Gesellschaft.»
Sjón beginnt früh mit dem Schreiben. Als Teenager veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband in Eigenregie. Sein Idol: André Breton. Er gründet eine surrealistische Künstlergruppe, früh trifft er auf Björk. Im Laufe der Zeit erscheinen neben Romanen wie «Schattenfuchs» und «Das Gleißen der Nacht» mehrere Poesiebände, Dramen, Bilderbücher und Libretti. Es ist ein Schreiben auf der Grenze zwischen Poesie und Prosa. Für «Der Junge, den es nicht gab» erhält er den Isländischen Literaturpreis.
In dem Roman wird der 52-jährige Autor erneut zum Gratwanderer - diesmal zwischen Film und Literatur. Mit harten Textschnitten setzt er gleichzeitig geschehende Erzählstränge ineinander. Kino und Sprache, Filmsequenzen und Erzählskizzen veranstalten ein hochkomplexes Spiel, in denen sich manch einer - zumindest am Ende des Romans - ein wenig verloren fühlen könnte. Explizite Szenen mutet Sjón seinen Lesern zu, ohne pornografischen Voyeurismus zu bedienen.
«Der Junge, den es nicht gab» ist ein überaus dichter Roman voller lyrischer Bilder und surrealer (Fieber-)Träume. Die Figuren sind düster, geheimnisvoll. Wie die Nordlichter in einer isländischen Winternacht. Wie ein Song von Björk.
- Sjón: «Der Junge, den es nicht gab». S. Fischer Verlag, 160 Seiten, 17,99 Euro, ISBN 978-3-10002239-4.
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